Direktor der OSZE als Gast in Stuttgart
(Stuttgart, 06.05.15) Mit dem bewaffneten Konflikt in der Ukraine beschäftigte sich ein Diskussionsabend, zu dem die Stuttgarter Liberalen am Mittwoch Abend in den Ratskeller geladen haben. Michael Link, Direktor des Büros für Menschenrechte und demokratische Institutionen der OSZE in Warschau, war an diesem Abend zu Gast bei der FDP. Mit ihm diskutierten Dirk Emmerich, internationaler Korrespondent bei RTL und dem Nachrichtensender n-tv sowie Julio Neto, Geschäftsführer der Außenwirtschaftsabteilung der IHK Region Stuttgart.
Der Kreisvorsitzende der Stuttgarter FDP, Armin Serwani, begrüßte die über hundert anwesenden Gäste mit nachdenklichen Worten zur Situation in der Ukraine. Er stellte fest, dass Russland als Konfliktstaat offensichtlich andere Maßstäbe an die Politik anlege und der Westen mit seiner bisherigen Sanktionspolitik immer wieder hinterfragt werde.
Michael Link schilderte seine Erfahrungen bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die mit zahlreichen Beobachtereinsätzen in der Ukraine engagiert ist. „Es ist erschreckend, dass wir heute weitgehend ratlos vor einem Krieg in Europa stehen“, stellte er fest und forderte, dass dieser Konflikt nicht isoliert betrachtet werden dürfe. Insbesondere Russland sei als Konfliktpartner aufgerufen, zum Frieden beizutragen. Link schilderte die Europäische Einigung, die von Russland aus als Bedrohung wahrgenommen werde und dazu der revolutionäre Umsturz in Kiew, der vom Kreml mit äußerstem Misstrauen betrachtet werde. Alle 56 Staaten der OSZE mit einziger Ausnahme Russlands selbst hätten die Angliederung der Krim an Russland als klaren Bruch des Völkerrechts verurteilt. Es sei bedauerlicherweise nicht zu erwarten, dass Russland an einer Beilegung der Krise in der Ostukraine interessiert sei, so der 52-jährige. Sorgen bereiteten ihm die Übergriffe auf Beobachter der OSZE, die Geiselnahmen oder Schussverletzungen zu befürchten hätten. Seine Organisation beobachte beide Konfliktparteien aufmerksam und dokumentiere die Verstöße gegen Demokratie und Menschenrechte unparteiisch.
Besondere Aufmerksamkeit widmete die OSZE der bisher stattgefundenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die zu einer Stärkung der gemäßigten Kräfte beigetragen hätte, so Link, und stellte fest: „Das ist ein Reifezeugnis für eine starke Zivilgesellschaft in der Ukraine“. Von der Ukraine seien nun dringend Reformen im Bereich der Rechte für Regionen, der Gewährleistung von Rechtsstaat und Menschenrechte und eine Verfassung zu erwarten. Insbesondere die Kommunalwahlen im Herbst böten die Möglichkeit einer Stärkung der Demokratie gegen die regional immer noch vorherrschenden Oligarchen. Er unterstrich in seinen Ausführungen, dass es zur weiteren Zusammenarbeit mit Russland trotz aller Schwierigkeiten keine Alternative gäbe. „Es ist eine unglaublich schwierige Ausgangsituation“, so Link auf die Frage nach den Zukunftsaussichten, aber er fügte an: „Die Türe für Russland muss offengehalten werden, aber es gibt für Konflikte internationale Regeln. Gerade wir müssen der Verächtlichmachung dieser Regeln entgegenwirken. Wir dürfen den Faktor Zeit bei allen Entwicklungen in Richtung Stabilität und Frieden nicht unterschätzen.“
Einen anderen Schwerpunkt setzte der Fernsehjournalist Dirk Emmerich, der für RTL und n-tv bereits vielfach aus Osteuropa und speziell in den Krisenherden der Ukraine berichtet hatte. Er bestätigte die Aussagen des OSZE-Direktors Link und schilderte seine eigenen Eindrücke und Recherchen. „Russland möchte Macht ausüben“ stellte er als eine der russischen Grundprinzipien fest. Die alte, historisch und sprachlich tiefe Verbindung zwischen Russland und der Ukraine mache deren Beziehung besonders sensibel. Dazu käme, dass Russland sich schon aus Tradition über Gegner definiere, was in solchen Krisensituation Verschwörungstheorien und Feindbildern Vorschub leiste. Emmerich nannte es einen „Hybriden Krieg“, was Russland auf der Krim und in der Ostukraine durchführe und meinte damit, dass nicht nur mit verdeckten Operationen agiert werde, sondern dass Russland die Ausrüstungsüberlegenheit gegenüber der ukrainischen Armee auch noch durch gezielte Desinformationen auf allen Ebenen verbreitere. Dies alles fände vor dem Hintergrund einer zunehmend geschlossenen Gesellschaft in Russland statt, die Westeuropa als zunehmend durch Homosexualität degenerierten, unchristlichen Kontinent verleumde. Er warnte vor der Uneinigkeit in der Europäischen Union, die Putin für seine Zwecke geschickt auszunutzen wüsste.
Júlio Neto von der IHK Region Stuttgart schilderte den wirtschaftlichen Hintergrund, vor dem dies alles stattfindet. Er berichtete, dass mehr als 6000 Firmen in Deutschland in Russland engagiert seien, was ca. 10% der im Ausland engagierten deutschen Firmen entsprechen würde. Deutschland sei für Russland wichtig als Investor (Platz 6). Die Sanktionen würden Russland vor dem Hintergrund weiterer Faktoren zusätzlich schwächen, so der Wirtschaftsexperte. So sei die Staatsverschuldung Russlands zwar relativ niedrig, aber vor dem Hintergrund eines stark gefallenen Ölpreises und eines schwachen Rubels sei die russische Wirtschaft zusätzlich vor Probleme gestellt. Strategien wie eine zunehmende Autarkisierung seien aufgrund stark ausgelasteter Produktionskapazitäten der russischen Wirtschaft ohne zusätzliche Investitionen schwer vorstellbar. Dauerhaft beschädigt sei der Ruf Russlands aber beispielsweise beim baden-württembergischen Mittelstand, die Russland nicht mehr als zuverlässigen Investitionspartner nach deren Schwierigkeiten und Enteignungsdrohungen der letzten Monate akzeptieren könnten.
EU-Experte Daniel Obst, der die anschließende Diskussion moderierte, arbeitete weitere wichtige Aspekte durch Fragen heraus. So unterstrich Michael Link die Notwendigkeit der Eingliederung aller paramilitärischen Truppen in reguläre Verbände. Emmerich berichtete von den Erfahrungen aus den Kampfgebieten und bestätigte den hohen Stand der Bewaffnung und Ausrüstung auf der Seite der russischen Separatisten. Erfahrungen mit der leidgeprüften Zivilbevölkerung hätten ihm immer wieder deutlich gemacht, „dass die Leute einfach nur in Ruhe leben wollen“. Ein verständlicher Wunsch, dessen Erfüllung aber noch lange nicht gewiss ist. Júlio Neto stellte fest: „Putin bereitet seine Bevölkerung gerade auf eine lange Durststrecke vor.“